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Dieses Werk (Philipp Mainländer, die Philosophie der Erlösung, von Edmund Pfleiderer), das durch Lennart Piro gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.


Philipp Mainländer, die Philosophie der Erlösung.

Berlin, Theobald Grieben 1876. VIII, 623 S. 8°. M. 10.

Rezension erschienen in: Jenaer Literaturzeitung 1877. Nr. 19. S. 295ff.

273] Der Verf. hegt die Meinung, welche er im Schlusswort ausspricht, ‘dass Schopenhauer's Werke fast noch gar nicht bekannt sind. Von den Wenigen, die sie kennen, schütten die Meisten, von den Fehlern abgestossen, das Kind mit dem Bade aus. Da galt es, zu handeln!’ Wir können desswegen sein Buch ganz im Allgemeinen als einen durchgeführten Verbesserungsversuch der ‘Welt als Wille und Vorstellung’ einbegriffen die einschlägigen kleineren Schriften des Frankfurter Einsiedlers bezeichnen. In der That wäre es fast rührend, wenn es nicht gar zu sehr an den bekannten Vers in Wallenstein's Lager erinnerte, wie pietätsvoll der Verf. seinen Meister, auch abgesehen von den Gedanken, bis in die kleinsten Aeusserlichkeiten hinein kopirt: dieselben Eintheilungen sogar im Druck und Format, die gleiche Manier pikanter Citate und schlagender Motto's — kurz, man könnte bei mässiger Zerstreuung eine gute Weile in dem Einen Buche lesen und meinen, man habe das andere vor dem leiblichen und geistigen Auge. Fast möchte man an das superstitiöse Skapulier der alten Mönche denken, deren ordensartige Kohaesion unsere Pessimisten ja auch sonst durchweg zeigen, nur dass sie sich neuerdings gleichfalls in Dominikaner und Franziskaner gespalten haben. Unser Verf. gehört professionell zur strict Schopenhauer'schen Observanz, während mich allerdings die absolute Namensverschweigung seines in jeder Hinsicht weit bedeutenderen und wirklich sehr werthvollen Rivalen Hartmann bei starker sachlicher Benutzung, ja die theilweise recht scharfen wenn auch verdeckten und ungerechten Seitenhiebe auf diesen, z. B. 362 ob., wiederum an die mittelalterliche Ordenseifersucht erinnern.

Spezieller zerfällt M.'s Buch, auch diess ganz à la Schopenhauer, in zwei Theile. Der erste gibt eine eigene, d. h. eine durchaus im eigenen Namen redende Weltanschauung als Analytik des Erkenntnissvermögens, Physik, Aesthetik, Ethik, Politik, und Metaphysik. Der zweite fast ebenso grosse enthält als ‘Anhang’ eine Kritik der Lehren Kant's und Schopenhauer's sammt daran geknüpften Erläuterungen des ersten Theils in der Weise von Schopenhauer's zweitem Band der W. a. W. und V. oder auch der Parerga.

Was diese Kritik S. 361-623 betrifft, welche wir schon um ihrer Ausführlichkeit willen auch hier zu berücksichtigen haben, so ergeht sie also ‘über die zwei grössten Philosophen aller Zeiten, von denen der Eine für den Kopf, der andere für's Herz ist; Deutschland kann stolz darauf sein’. Faktisch spielt jedoch auch hier Schopenhauer die Hauptrolle, während Kant mehr nur des Beispiels in der ‘Welt als W. und V.’ wegen oder Ehrer halber sozusagen als die gegenwärtig unerlässliche philosophische Vorspannung mit zu figuriren scheint. Es macht dabei, auch wenn man nicht als die bekannte Schopenhauer'sche Species des ‘Philosophieprofessors’, sondern nur als Mensch im Allgemeinen dem Handel zusieht, schon formell einen eigenthümlichen Eindruck, die literarische Nemesis zu sehen, welche über den Frankfurter Philosophen mit seinen bekannten schriftstellerischen Eigenschaften von Seiten eines Jüngers ergeht, der doch ‘getragen ist von aufrichtiger Verehrung und unaussprechlicher Dankbarkeit gegen den Meister und von dessen Einfluss auf sich selbst gar nicht reden will’. Oefters lesen wir unbetheiligten Laienbrüder mit Erstaunen folgendes pessimistische Mönchsdeutsch über Schopenhauer: ‘Wie komisch, wie naiv, wie kläglich, wie erbarmungswürdig, wie absurd, wie bewusst unwahr’. Oder hören wir von Stellen, die ‘geradezu erbärmlich sind und den Geist Schopenhauer's schänden — sein System ist ein zersplittertes, nothdürftig geleimtes, an unheilbaren Widersprüchen krankendes — die entgegengesetzten Ansichten liegen wie Lämmer auf der Weide friedlich bei einander; oft trennt sie nur der Raum von wenigen Seiten — in der Ethik treten seine Grundirrthümer als eine Rotte von Brandstiftern auf, die sein Werk vernichten — seine Irrthümer treten zuweilen mit einer Dreistigkeit und Unverschämtheit auf, welche das sanfteste Blut in Wallung setzen — er ist meist ein Mystiker und befährt eigentlich immer den uferlosen Ocean; Nelbelbänke und bald wegschmelzendes Eis hat er für neue Länder gehalten — in seinem Herzen lebte der unerschütterliche Glaube an übersinnliche Mächte; dass er diesen Glauben nicht offen bekannte, hatte seinen Grund darin, dass er wohl wusste, es handle sich um seinen wissenschaftlichen Ruf, und das stärkste Motiv war, wie immer, Sieger’. Doch genug mit dieser Blumenlese von lauter verba ipsissima, die übrigens als statistischer Beitrag zur Pathologie jener Pessimistenlinie dienen und den Ton bezeichnen möge, welchen sie in dieser schlechtesten Welt sogar unter sich ‘όμολογουμένως τή φύσει’ anzuschlagen belieben — wie viel mehr gegen Dritte; darum wehe auch uns! Sachlich jedoch ist die in's Detail gehende Kritik vielfach sehr treffend und führt in schlagender Weise die Einwände aus, auf welche theils schon Volkelt in seinem guten Buch ‘das Unbewusste und der Pessimismus’, theils Hartmann selbst in seiner den Meister verbessernden Gegenausführung hindeutet — worüber aber wie gesagt der Rivale Mainländer altissimum silentium beobachtet. Insbesondere ist es der so nebulose und niemals konsequente subjective Idealismus Schopenhauer's‚ sowie damit zusammenhängend seine Leugnung der realen Individualität, was M. auf's Heftigste rügt.

Wenden wir uns zu seiner eigenen, freilich durchweg stark cavalièrement hingeworfenen Weltanschauung im ersten Theil S. 1-358, so mögen wir nach sonstiger Terminologie etwa theoretische und praktische Philosophie unterscheiden. Die letztere gipfelt dem Titel des Ganzen entsprechend in einer Erlösungslehre, deren Quintessenz kurzgesagt in dem Nachweisungsversuche liegt, dass mit dem Tod des Individuums durchaus und in jeder Hinsicht für dasselbe Alles aus sei und wenigstens keinerlei mystischer Rest oder Hintergrund kein fatales ‘Fortsetzung folgt’ in der Weise Schopenhauer's (oder Hartmann's) den definitiven Trost des nihil negativum kürze und trübe.

Es sei uns nun verstattet, an diesem Ort das Hauptaugenmerk der theoretischen Basis jener recht handlich-konzisen Erlösungslehre zuzuwenden. Wir finden darin zunächst eine sehr eigenthümliche und jedenfalls kulturgeschichtlich interessante Kombination des Schopenhauer'schen Willensstandpunkts mit dem modernen mechanisch-atomistischen Naturalismus. ‘Die Last des empirischen Materials in der gegenwärtigen Naturwissenschaft ist geradezu erdrückend; und nur mit dem Zauberstab eines klaren unumstösslichen philosophischen Prinzips lässt sich die Sichtung einigermaassen bewerkstelligen, wie sich nach den Tönen der orphischen Leyer die chaotischen Steinmassen zu symmetrischen Bauten ordneten. Ein solches unumstössliches Prinzip ist der individuelle Wille zum Leben, in seiner Privatrealität so sicher wie ein mathematischer Satz’ — wovon freilich Schopenhauer und in anderer Weise doch beinahe auch Hartmann ebenso turbulentapodiktisch das directe Gegentheil behaupten! — ‘Ich drücke ihn, fahrt M. fort, gleichsam als ein Geschenk jedem treuen und redlichen Naturforscher mit dem Wunsche in die Hand, dass er ihm die Erscheinungen auf seinem abgegrenzten Felde besser erkläre als seither. Im Allgemeinen aber hoffe ich dass dieses Prinzip der Wissenschaft eine neue Bahn öffne, auf welcher sie so erfolgreich sei, wie auf jener, welche ihr Bako durch seine induktive Methode erscbloss.’ Schon Schopenhauer hatte das bekannte Wort gesprochen, dass die Physik sich auf jedem Schritt nach Metaphysik sehne. Allein erst mit dem realistisch und individuell gedachten Willen liess sich ernstlicher zu einem Bündniss mit dem mechanischen Atomismus schreiten. So soll nun z. B. der Uebergang der Urgase in flüssigen Zustand nicht mit den Physikern aus ihrem Erkalten im leeren Weltraum abgeleitet werden — ‘welche dürftige Erklärung’! — sondern sie waren durch ihr expansives Streben selbst und durch den Kampf so heruntergekommen und geschwächt, dass sie nur noch Kraft und Willensenergie zum zweiten, schon geringerwerthigen Aggregatzustand besessen. Ebenso ergeht es der Newton'schen Gravitationslehre. ‘Die Nachwelt wird kaum glauben können, dass man sich so lange bei den Gesetzen — Wurf- und Anziehungskraft — beruhigt und nach den wahren Kräften nicht geforscht hat. Wenn sie aber erwägen wird, wie in der betreffenden Periode alles Unerklärliche kurzerhand transcendenten Wesenheiten — hier eben jenen zwei prosaischen Kräften — in die Schuhe geschoben wurde, wird ihr Erstaunen aufhören’. Nach M. ist vielmehr unsere Erde eine Kollektiveinheit individueller Willen, deren durchschnittliche ‘Begierde’ nach dem Mittelpunkt der Sonne geht. Die Sonne aber ist diesem Werben à la Française gegenüber spröd und stösst sie ab, so dass also die Rollen gegenüber von Newton's Meinung gerade vertauscht sind, ‘und dennoch ist es mir, als hätte ich auch in dieser Richtung, aber nicht lange genug, das entschleierte Antlitz der Wahrheit gesehen’. Endlich ist bei der fundamentalen Bedeutung der Chemie auch noch der Versuch zu erwähnen, nicht minder diess Gebiet willensmässig zu begeisten. Statt chemischer Elemente lesen wir immer ‘chemische Ideen’, ‘geschmolzene, gasförmige Ideen’ — der alte Plato und Kant würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie ‘diesen unerträglichen Missbrauch des Worts Idee’ hörten! Beim Verbinden chemischer Ideen nun weiterhin scheint M. etwas stattzufinden, ‘was wir, wäre es von Bewusstsein begleitet, Nothzucht und gewaltsames Unterwerfen, nicht gegenseitiges sehnsüchtiges Suchen nennen würden’.

Vielleicht sind die Naturforscher nicht so ganz zufrieden mit diesem philosophischen ‘Zauberstab’ und Gastgeschenk, das ihnen in die Hand gedrückt werden soll; sie geniren sich gewiss, auf die Stufe des alten Sehers Empedokles oder der mittelalterlichen Laboranten zurückzusinken. Möglicher Weise befreunden sie sich aber besser mit der zweiten Gabe, die M. ihnen als theoretisches Pendant der praktischen Erlösung noch anbietet: ‘Ich betrachte ferner das reine, vom Spuk transcendenter Wesenheiten total befreite immanente Gebiet als ein zweites Geschenk, das ich den Naturforschern mache. Wie ruhig sich darauf arbeiten lassen wird! Gewiss wird diese Erkenntniss von der segensreichsten Wirkung auf den Entwicklungsgang der Menschheit sein. ich sehe die Morgenröthe eines schönen Tags’.

Durch die Betonung einer ausnahmslosen realen Willensindividualität — deren Verhältniss zur Atomfrage freilich sehr in subjektiv-idealistischer Unklarheit bleibt, — glaubt nämlich M. erstmals alle und jede Transcendenz über, unter und in der Welt gründlich beseitigt und sonach mit allem Spuk und Gespensterglauben reinen Tisch gemacht zu haben. Ist ihm doch sogar noch der Materialismus mit seiner Einen Materie und Kraft transcendenter dogmatischer Dualismus, wie vielmehr natürlich Schopenhauer und gar vollends die Philosophie des Unbewussten mit ihrem Willensmonismus. Nun zeigt die immanente Welt allerdings ein Zusammenwirken aller individuellen Separatpotenzen; ja sogar die Teleologie kann nur mit unnatürlicher Gewalt geleugnet werden, ‘welche der Erfahrung in's Gesicht schlägt, um ein spukfreies rein immanentes Gebiet zu erhalten. Gab man dagegen der Wahrheit die Ehre und erkannte die Zweckmässigkeit an, so musste man seither eine Einheit in, über oder hinter der Welt annehmen’, musste demnach theistisch oder pantheistisch resp. pandämonistisch denken. Diesem Anstoss, welchen ihrer Konsequenz halber die Teleologie ‘von jeher für alle klaren empirischen Köpfe gehabt hat, entgeht man nur, wenn die Welt auf eine einfache vorweltliche Einheit zurückgeführt wird, welche nicht mehr existirt’. Der oder das grosse Pan ist todt, faktisch todt; wir haben es vom Hals und ‘der Atheismus ist wissenschaftlich begründet’! Damit ‘lösen sich die schwersten philosophischen Probleme mit spielender Leichtigkeit’ (S. 599). Unsere Vernunft, welche schlechterdings eine Einheit postulirt, ist abgefunden, und doch sind wir zugleich den Einheitsspuk los; Entstehung und erste Bewegung der Welt, sowie Wechselwirkung und sog. zweckmässige Beziehung der diskreten Theile ist gar kein Problem mehr; denn es erweist sich diess Alles jetzt als Folge jenes grossen freiwilligen Todesfalls in der vorweltlichen Transcendenz, sozs. als Erbschaft, welche die Welt dabei angetreten hat: ‘Gott ist gestorben und sein Tod war das Leben der Welt, zwei Wahrheiten, die uns tief befriedigen und das Herz erheben’ (108). Ausdrücklich verwahrt sich der Verf. dagegen, dass er hiebei einen logischen Gewaltstreich ausführe oder mit Vernunft rase, sondern er diene nur in Treue der Wahrheit.

So wäre nun das metaphysiselie Ei des Kolumbus endlich glücklich gefunden — falls wir in unserem neunzehnten Jahrhundert das Ganze nicht für einen literarischen Fastnachtsscherz oder gar für eine mystifizirende Persiflage gewisser moderner Geistesrichtungen halten müssen! Die Welt besteht aus den disjecta membra des grossen vorweltlichen Selbstmörders, auch Gott genannt. Kein Wunder, dass desshalb neben ihren rationellen Vererbungen, der teleologischen Einheit und dergl. der Todeskeim und die häreditäre Selbstmordsmanie ihr innerlichst im Blut oder Herzen sitzt. Alles Leben ist direct oder indirect vom väterlichen Lebensgrunde her Wille zum Tod; die steigende Differenzirung ist auf allen Gebieten und am deutlichsten auf dein welt- oder kulturgeschichtlichen eine steigende Schwächung der Kraft, bis sie sich zuletzt in das nihil negativum absolutum aufgelöst hat, wo es heisst: ‘Es ist vollbracht’! Für die Menschheit ist diess in ein paar Jahrhunderten zu erwarten, aber auch für die wesensgleiche materielle Welt steht dasselbe bevor, da ihr oberstes Gesetz die Zerstörbarkeit der Kraft ist — ein Gedanke, der vielleicht ein drittes Gastgeschenk an die Naturwissenschaft sein soll.

Ich glaube in Anbetracht dieses ihres stets als Hauptfund betonten Einfalls von der Todesenergie des Alls kaum, dass es uns die vorliegende neueste messianische Weissagung oder ‘Philosophie der Erlösung’ verargen kann, wenn wir eine kleine Umtaufung mit ihr vornehmen und sie kurzweg und geradezu als ‘Mythologie der Verwesung’ bezeichnen.

Kiel.
E. Pfleiderer.